Die banale Hölle der Ü30-Lebenshilfe-Literatur

„Achte auf deine Bedürfnisse“ – und weitere Non-Tipps, die nur für noch mehr Stress sorgen + Hoodie-Fail für Team Merz + Königliche Schmonzette: "Maxima" in der ZDF-Mediathek

Herzlich willkommen bei Sunday Delight!
Ich bin Julia Hackober, Kultur-und Stilkritikerin aus Berlin, und ich diskutiere liebend gern über alle möglichen (nebensächlichen) Themen. In diesem Newsletter kommentiere ich jeden Sonntag die interessantesten Hypes und Aufreger aus Popkultur, Gesellschaft und Lifestyle. Heute geht’s um folgende Themen:

  • “Mache Pausen”: Ein Ratgeber für Ü30-Frauen sollte mir bei der Stressbewältigung helfen – der Versuch ging gründlich schief. Ein Rant. 

  • enjoy & judge – der popkulturelle Wochenrückblick: Die Herausforderungen von “opinion wear” (looking at you, Team Merz) und eine Ersatzdroge für “The Crown”-Fans

Viel Spaß beim Lesen!

“Mache Pausen”

Die ödesten Non-Tipps gegen Stress und die Frage:
Ist “in Balance zu sein” wirklich das höchste Ziel für Millennial-Frauen? (i doubt it)

Paris Hilton Help GIF by The Tonight Show Starring Jimmy Fallon

Gif by fallontonight on Giphy

Diese Woche habe ich versucht, nicht gestresst zu sein. Oder nein, halt – weniger gestresst zu sein, ich will mich ja nicht im Bemühen, Stress zu reduzieren, schon wieder neuem Druck aussetzen!

Also habe ich diese Woche meine Bedürfnisse genau beobachtet (länger als bis 7 Uhr schlafen).

Ich habe mein Verhalten reflektiert (morgens schon so aufgeregt, dass mittags ein Mental-Health-Walk nötig wurde).

Ich habe mich gefragt, welche Anforderungen von außen an mich gestellt werden und welche Erwartungen ich selbst an mich habe (will nur ich diesen Newsletter pünktlich verschicken oder erwarten das meine Leser:innen?).

Ich habe beim Arbeiten alle 70 bis 80 Minuten Pause gemacht, meine Energiespender (“Onyx Storm” lesen) und Energiezieher (existieren) notiert.

Abends habe ich beim Journaling über meine Sozialisierung als auf Perfektionismus getrimmte Frau nachgedacht, die gar nicht anders kann, als sich im ewigen People-Pleaser-Strudel selbst zu verlieren.

Die Tipps, Anweisungen und Erkenntnisse dazu, warum ich so bin, wie ich bin, hatte ich alle aus einem Buch mit dem Titel “Less Stress in your 30s”, das schon auf dem Cover verspricht: “Wenn du dir mehr Zeit, Leichtigkeit und Energie wünschst, lies dieses Buch.”

“Less Stress in your 30s”, von Sue Fengler, erschienen bei GU, um 19 Euro

Kann nicht schaden, dachte ich. Also las ich mir die Checklisten, Tipps und “Aha”-Momente mehr oder weniger prominenter Frauen in diesem Buch genau durch, bei denen es irgendwann “klick” gemacht hatte. Sie alle waren der Hektik des Ü30-Lebens entkommen oder auf einem “guten Weg” dahin, zum Beispiel, weil sie zur Entschleunigung nach Bali ausgewandert waren, wie eine Influencerin im Buch berichtet.

Joah, gut. Auch habe mich diese Woche wirklich redlich bemüht, siehe oben, muss aber wohl irgendwas bei der Umsetzung der Anti-Stress-Tipps falsch gemacht haben – denn es kam mir insgesamt doch recht zeitaufwendig und mühsam vor, weniger gestresst zu sein. Das Unterfangen war jedenfalls nicht von Erfolg gekrönt, im Gegenteil: je länger ich mich mit dem Anti-Stress-Buch beschäftigte, desto gestresster wurde ich.

Mal im Ernst: Das Buch von Sue Fengler, Bloggerin und Stressmanagement-Trainerin, ist bestimmt lieb gemeint (jedenfalls wird der Begriff “Sozialisierung” im Buch so häufig verwendet wie in einer etwas übermotivierten Erstsemester-Hausarbeit in Soziologie). Ehrlich gesagt ist es aber eher ein Angebot für alle, die sich die gängigen Instagram-Weisheiten zum Thema Stressbewältigung (“mache Pausen”, “reduziere deine Bildschirmzeit”, “priorisiere”) gern in ausgedruckter Form ins Bücherregal stellen. Wiedervorlage bei Bedarf: Wie war das noch mal, wenn ich überfordert von einfach allem bin? Ah ja – tiiief durchatmen.

Verzeihung, wenn ich jetzt ein wenig gemein werde. Und bitte nicht falsch verstehen: Natürlich sollte man sich lieber rechtzeitig Gedanken übers Stresslevel machen und Unterstützung suchen, bevor man ins Burnout schlittert!

Dennoch kann ich mit dieser Art von “wenn du diese Checkliste an Binsenweisheiten abgehakt hast, geht’s dir bald besser”-Literatur nicht viel anfangen.

Erstens ist es mir ein einziges Rätsel, wer auf die Idee gekommen ist, Frauen in meinem Alter müsse man sämtliche Lebensbereiche in seeehr einfachen Schritten erklären. Ich persönlich möchte in Büchern auch nicht geduzt werden, als sei ich eine zwar bemühte, aber hoffnungslose Nachhilfeschülerin in Lebensfragen.

Zweitens finde ich es zunehmend befremdlich, dass ausgerechnet Frauen dauernd dazu aufgefordert werden, sich doch einfach mal zu entspannen. Nicht alles so ernst zu nehmen. Mehr auf ihre Bedürfnisse zu achten. Die ewige Auseinandersetzung mit sich selbst ist offenbar alles, was Frauen zugetraut wird. In Sue Fenglers Buch wird in einem Halbsatz erwähnt, dass sich natürlich eigentlich “die gesellschaftlichen Strukturen” (was auch immer damit gemeint sein mag) ändern müssten und nicht die Frauen – bis dahin solle man sich aber erst mal auf sich selbst konzentrieren.

Bleibt mal schön zu Hause und visualisiert eure Feel-Good-Routinen, mehr ist euch ja nicht zuzumuten, sonst seid ihr gleich wieder überfordert! Ist das wirklich die Message, die wir 2025 an Frauen in der “Rushhour des Lebens” senden wollen? Also, ich fühl’s nicht – ist Balance wirklich alles, was Mitte-30-jährige Frauen sich vom Leben wünschen?

Zumindest scheint es das zu sein, wovon die Selbsthilfe-Literatur glaubt, dass wir uns das wünschen – also Ruhe, Gelassenheit, ein Leben im Einklang mit sich selbst. Bloß nicht aufregen, bloß nicht aus dem Tritt kommen, und wenn, dann auf jeden Fall die richtigen Tools parat haben, um die kleine Delle in der Gleichmäßigkeit des Alltags direkt wieder glattbügeln zu können. Manche nennen das Zen, andere nennen es Neo-Biedermeier.

Aber naja, was weiß ich schon. Ich bin nur ein hoffnungslos gestresstes, nervöses Wrack, das noch nicht mal all seine negativen Glaubenssätze hinterfragt hat. Was weiß ich schon.

Welche Freundinn:en müssen diesen Text unbedingt lesen? 🙂 

enjoy & judge:
Themen, die mich diese Woche nicht loslassen

📚Buch der Woche: Journalistin und Podcasterin Sally Lisa Starken ist durch Deutschland gereist, um herauszufinden, warum Menschen AfD wählen. Ihre Begegnungen und Unterhaltungen beschreibt sie in ihrem neuen Buch “Zu Besuch am rechten Rand”, das diese Woche erscheint (hier vorbestellen). Das Buch lebt von Sallys einfühlsamer, bedachter Art, sich Menschen und Themen zu nähern, und vermeidet Klischees (zum Beispiel über “den Osten”) – und ist deshalb umso wirkungsvoller, wenn es darum geht, menschen- und demokratiefeindliche Narrative auseinanderzunehmen. Große Leseempfehlung!

😩 Fail der Woche (und ja, noch mal Politik, aber ich kann nicht anders diese Woche): Bei der Berlinale trug Aktivistin Luisa Neubauer ein Protest-Kleid mit der Frage, ob Friedrich (Merz) mit "Donald & Elon & Alice” in einer logischen Reihe stehen will. Team Merz reagierte mit einem Antwort-Sweatshirt, das Merz in die Tradition großer CDU-Kanzler stellt. Leider wurde in der Aufzählung “Konrad & Ludwig & Helmut & Friedrich” eine Person vergessen. Richtig: Angela Merkel! Huch… so wird’s aber nix damit, das Image als Anti-Feminist abzuschütteln. Oder, wie “Spiegel”-Redakteurin Anna Clauß auf Instagram schrieb: “Langsam habe ich den Eindruck, die Union will bei dieser Wahl nicht von Frauen gewählt werden!”
Autsch. Mit der Protestmode ist es halt so eine Sache – man muss schon sehr genau überlegen, ob man Fashion für sich sprechen lassen will. 2020 habe ich schon mal ausführlich über die komplexen Herausforderungen von “opinion wear” geschrieben, der Artikel ist immer noch aktuell: “"‘Im aktuellen Lifestyle-Kapitalismus werden nicht Produkte, sondern emotional aufgeladene Bausteine von Identitätsentwürfen verkauft’, schreibt die Politwissenschaftlerin Sabine Dengel. Mode ist Kommunikation, und es ist im wahrsten Sinne des Wortes wieder in Mode gekommen, sich mit einfachen Slogans an den großen Themen unserer Zeit abzuarbeiten.”

📺 Ersatzdroge für “The Crown”-Fans: In der ZDF-Mediathek liebt und leidet aktuell “Maxima” – die Serie erzählt nämlich von der Eheanbahnung zwischen der Argentinierin Maxima Zorreguieta und dem heutigen König Willem-Alexander der Niederlande. Das Leben lebender Royals zu verfilmen, hört sich mega-trashig an (und die Sexszenen!! der Serie sind ganz schön cringe), die guten Schauspieler und der historische Hintergrund (Maximas Vater war Teil der Militärdiktatur unter Jorge Videla) reißen’s aber raus. Die Hauptdarsteller sind im echten Leben übrigens inzwischen ein Paar –wenn das nicht herzig ist, weiß ich auch nicht!

Auf der “jaja, hab ich mitbekommen”-Liste:

  • Den Song der Woche haben Sabrina Carpenter und Dolly Parton eingesungen – in “Please, Please, Please” geht’s um verletzte Egos in der Liebe.

  • In der Netflix-Serie “Apple Cider Vinegar” treibt eine Scammerin in der Millennial-Wellbeing-Szene ihr Unwesen – und baut ihr Unternehmen auf einer Krebslüge auf. Crazy: Die Serie basiert auf einer wahren Geschichte. Review folgt!

  • Die “Berliner Zeitung” gibt mal wieder Tipps, wie man sich in der Hauptstadt NICHT wie Touris anzieht. Hm. Dresscodes für vermeintliche Coolness aufzustellen erinnert mich irgendwie sehr an “The Devil Wears Prada” - und sorgt doch noch für einen langweiligen Einheitslook. Oder wie seht Ihr das?

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